Fast. Fast wäre es in dieser Woche vorbei gewesen. Fast wäre ich bei meiner Friseurin gelandet und hätte ihr gesagt: „Jetzt ist Schluss mit diesem vermaledeiten Spuk der grauen Haare. Rühr die Farben an und mach alles wieder gut.“ Zuvor war ich ein paar Tage verreist. Istanbul. Es wurden jede Menge Fotos geknipst. Ich von vorne, von hinten, von der Seite und ganz viel von Oben. Und überall graue Haare.
Zu Hause sah ich mir die Fotos an. Bis dahin hatte ich keine Ahnung gehabt, was in den letzten Monaten alles an meinem Hinterkopf passiert ist, dort wo die Wirbel die Regie führen. Der Fotobeweis war eindeutig: An dieser Stelle sahen die grauen Haare aus wie verschimmelt. Verschimmelt aussehende Haare, besonders wenn sie sich dem Blick entziehen, weil sie am Hinterkopf wachsen, sind sehr irritierend. Es sind die eigenen Haare und deswegen möchte man, dass sie wundervoll aussehen. Aber sie sehen verschimmelt aus, und dafür hasst man sie.
Ich löschte alle Fotos von mir bis auf dieses eine hier, das ein bisschen verwackelt ist und auf dem ich eine Mütze trage.
Dann wurde ich erst mal krank. Beim ersten Blick in den Spiegel nach ein paar Tagen mit Fieber im Bett schlug es mich vor Schreck gleich wieder in die Kissen zurück. Andere haben Sex auf dem Küchentisch, dachte ich. Sie tragen glänzende, schicke Frisuren. Sie haben Männer, die ihnen ganze Tulpenfelder zu Füßen legen. Sie werden in teure Restaurants ausgeführt und unsereiner schwitzt hier grau und alt vor sich hin und mümmelt schon den dritten Tag Hühnersuppe aus dem Glas. Saublöder Selbstversuch! Saublöder! Soll sich doch eine andere hier zum Deppen machen und sich ein Jahr lang mit gescheckten Haaren zur Schau stellen. So dachte ich und tat mir sehr, sehr leid.
Sonntag kam meine Lieblings-Sonntagszeitung. Ich liebe Sonntagszeitungen, natürlich nur anspruchsvolle Qualitätspresse, alles andere ist indiskutabel. Zu den Dingen, die ich an einem Sonntag am meisten schätze, gehört die Sonntagszeitung. In der Stilrubrik las ich einen eigentlich völlig irrelevanten, aber für mich fast lebensrettenden Artikel über einen neuen Trend auf den Modewochen in Mailand und London. Two –tone hair, zwei Farben im Haar. Vom Scheitel bis zum Ohr wasserstoffblond und dann kohlrabenschwarz. Oder umgekehrt. Zwei Londonerinnen erzählen, es habe ein Jahr gedauert, bis sie einen Friseur gefunden haben, der wusste, was sie wollten. Er heißt Daniel und arbeitet bei Taylor Taylor in Notting Hill.
Jetzt werden Sie verstehen, warum ich Ihnen nur dringend empfehlen kann, eine Sonntagszeitung zu lesen. Ihr Leben ist in Schutt und Asche, Sie sind kurz davor, sich bei einem peruanischen Schamanen zum Retreat anzumelden, dann studieren Sie einen Artikel in der Stilrubrik der Sonntagszeitung und schon ist alles wieder im Lot. Die Transformation vom verhuschten Fotoopfer zur Trendsetterin mit hippem Two-tone gelang mir ziemlich glatt. Morgen habe ich mich beim Friseur angemeldet. Ich lasse die Haare 10 Zentimeter kürzen, auf dass der Grauanteil noch größer werde. Anschließend Wimpern färben, Maniküre, Make up, alles. Danach kaufe ich Arme voller Tulpen. So viele, dass die Vasen platzen. And the Selbstversuch goes on ….
Und so begann der Selbstversuch:
Mein Leben mit grauen Haaren: Ein Selbstversuch (1)“>Mein Leben mit grauen Haaren: Ein Selbstversuch (1)
Mein Leben mit grauen Haaren: Ein Selbstversuch (2)