Ich habe eine sehr intensive Beziehung zu Büchern. Als Kind, kaum konnte ich mit sechs Jahren lesen, begann ich damit, das komplette und mir damals unfassbar groß erscheinende Bücherregal meiner Eltern durchzulesen. Ich verstand die Bücher nicht so, wie sich der Autor das gedacht hatte, sondern rezipierte und verortete die Zeilen in meiner kindlichen Welt. Ich las die Bücher von Simmel und Konsalik , las über die 80er-Jahre-Weltuntergangsangst vor dem Kalten Krieg, las über den zweiten Weltkrieg und abgefrorene Füße in Stalingrad, las Jahrhunderte umspannende Familiensagas und „Vom Winde verweht“. Ich verschlang alles. Mit neun Jahren bekam ich „Salz auf unserer Haut“ in die Finger, ein 1988 erschienener, autobiografisch geprägter Roman der französischen Schriftstellerin Benoîte Groult, der vom damaligen Establishment zunächst als pornografisch eingeordnet wurde, dann aber (oh Wunder) zum Bestseller avancierte. Meine Mutter war not amused, als sie mich mit dem Buch erwischte.
In der Schule war ich gut in Deutsch und Geschichte und ich studierte Literaturwissenschaften, Medienwissenschaften und Geschichte. In all den Jahren waren Bücher meine täglichen Begleiter. Über Stunden konnte ich in ihnen abtauchen, die Welt um mich vollkommen vergessen, was meine Mutter regelmäßig zur Weißglut brachte – verwechselte sie meinen Zustand doch mit pubertärer Ignoranz.
Deutschunterricht und Studium gaben mir später Werkzeuge an die Hand, die Texte, die mir oft wie ein Gemälde erschienen, die es geistig zu durchdringen gilt, vielschichtiger und intensiver zu verstehen und eben auch als Kunstwerke zu begreifen. Bücher waren – neben rein fiktiven Geschichten – nicht mehr nur ein Weg, vergangene gesellschaftliche Phänomene und Ereignisse und damit die Welt besser zu ergründen, sondern auch um aktuelle soziale-gesellschaftliche Gegebenheiten zu verstehen und aus verschiedenen Perspektiven kennenzulernen. „Kanak Sprak“ von Feridun Zaimoglu öffnet zum Beispiel eine Tür in eine Welt, die parallel zu unserer gutbürgerlichen existiert und uns die hybriden Kulturen, die schon lange entstanden sind, besser verstehen lässt, wenn wir das denn wollen.
Neben dem Lesen unzähliger Bücher – von simpler Belletristik bis zu zähesten wissenschaftlichen Abhandlungen – gehörte natürlich auch das Schreiben zu meinem Leben. Ich schrieb mit Leidenschaft Aufsätze in der Grundschule, interpretierte und analysierte Prosa auf dem Gymnasium, ich schrieb viele Hausarbeiten mit noch viel mehr Seiten und eine Magisterarbeit, ich schrieb Artikel für die Lokalzeitungen, bei denen ich Praktikantin war, profilierte mich im Bereich Öffentlichkeitsarbeit, war Pressesprecherin für ein Jobcenter und ein Krankenhaus und bin heute PR-Direktorin . Mit dem vollkommenen Eintritt in die Erwerbswelt war es ziemlich vorbei mit dem vielen Lesen. Die Zeit fehlte, die verbliebene Zeit nach Feierabend war das Gehirn nicht mehr willig, meist noch nicht einmal für einen Krimi.
In den ersten Monaten meiner Elternzeit holte ich einiges auf und schwelgte während stundenlanger Stillsessions mit nur kurzen Unterbrechungen in den dicksten Wälzern. Nach Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit als nun zusätzlich Mutter zeigte sich das Gehirn nach Feierabend, der nun zwischen 20 und 21 Uhr nach der Erledigung aller beruflichen, mütterlichen und haushaltlichen Pflichten eintritt, nicht unbedingt williger, Texte über das Niveau gängiger Zeitschriften hinaus aufzunehmen. Nicht schlimm – immerhin ermöglicht mir mein Beruf den täglichen Umgang mit Texten. Ist ein Text fertig geschrieben, sehe ich ihn durch die gleichen Augen, wie ein Tischler das fertige Möbelstück oder ein Landwirt das bestellte Feld und empfinde: Zufriedenheit, etwas geschaffen zu haben.
Für die kindliche Welt der Bücher habe ich nun ebenfalls wieder eine Eintrittskarte. Mein 21 Monate alter Sohn liebt seine Bücher, er blättert darin – mit uns oder allein, entdeckt mit ihrer Hilfe die Welt, in der es noch nicht um gesellschaftliche Phänomene, sondern das Erkennen von Wauwaus, Affen und orangefarbenen Baggern geht sowie das Hasenkind, das nun schlafen geht. Wie unfassbar groß muss ihm meine Büchersammlung heute erscheinen, im Regal im Wohnzimmer, wie früher bei meinen Eltern.
Um für Oscar die richtigen Bücher zu kaufen, ließ ich mich neulich erstmals wieder in einer Buchhandlung beraten und wurde daran erinnert, wie wichtig diese Oasen der Geschichten und Sprache sind. Es ist ein kleiner Buchladen in einer kleinen Stadt, deren Fußgängerzone nicht besser dasteht als die Einkaufsstraßen in all den anderen kleinen Städten. Die Buchhandlung gehört Bettine Saabel, heißt auch Buchhandlung Saabel und befindet sich in Bad Driburg am Teutoburger Wald in Ostwestfalen. Wenn Bettine Saabel über ein Buch erzählt, könnte ich stundenlang zuhören. Sie erzählt von jedem Buch, als sei es ihr Liebstes. Und sie empfahl mir treffsicher genau das richtige Buch für Oscar. Das hätte Amazon natürlich nicht gekonnt. Ich werde jetzt wieder öfter im Buchladen kaufen. In der Buchhandlung Saabel, wo deren Inhaberin regelmäßig Lese- und Spieltage für Kinder veranstaltet, die so liebevoll dekoriert ist und die nach Büchern riecht.