E.1027 an der südfranzösichen Küste in Roquebrune ist eigentlich nur ein Haus, aber was für eins! Die Erbauerin des architektonischen Kleinods ist Eileen Gray,eine Autodidaktion auf dem Gebiet der Architektur, die nur mit wenigen Häusern in Erscheinung trat.
Ein weiß gestrichener Güterwagen auf dem Abstellgleis neben dem Bahnhofsgebäude der kleinen Station Cap Martin bildet das Entrée. Hier trifft sich, wer das Reich von Eileen Gray erleben möchte. Um Punkt zehn Uhr geht es los, zu Fuß auf dem Zöllnerweg, der den Küstenstreifen zwischen Monaco und Menton erschließt. Schon bald liegt einem das Grundstück am Hang zu Füßen. Eine Hängematte pendelt im Wind, als habe Eileen Gray sie eben erst verlassen.
Eileen Gray gilt als wohl bedeutendste Interior-Designerin des Art déco.
Sie ist die Großmeisterin einer ebenso eleganten wie reduzierten Formensprache. Leicht hatte sie es nicht, sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben ihren männlichen Kollegen zu behaupten, die ihr ständig Steine in den Weg zu legen schienen. Auch die Kritiker waren ihr gegenüber sehr hart.
Eigentlich hatte sie Malerin werden wollen, die dritte Tochter einer adligen irischen Familie. Als Jugendliche zieht sie mit ihrer Mutter nach London, scheibt sich dort als eine der ersten Kunststudentinnen ein, fiel schon an der Hochschule durch ihren Eigensinn auf und beschäftigte sich statt mit Zeichenstiften lieber mit dem Erlernen von Lackiertechniken.
Sie legt sich einen androgynen Look zu und übersiedelt nach Paris und wird Gast in den Salons von Gertrude Stein und Natalie Barney. Ihre Bisexualität lebt sie in dem diskreten Rahmen aus, der der damals in gehobenen Kreisen chick und toleriert war. Mit ihrer Geliebten, der Sängerin Marisa Damia cruist sie Cabrio über die Pariser Boulevards, auf dem Rücksitz ein Leopard. Ihre ultramodernen Möbel ziehen bei James Joyce, den Rothschilds und Elsa Schiaparelli ein.
Von einem japanischen Meister lässt sie sich in die uralte Technik fernöstlicher Lackarbeiten einweihen. Ab 1910, in einer Zeit, als Innenarchitektur noch eine Männerdomäne war, entstehen in ihrer eigenen Werkstatt Wandschirme und Kleinmöbel. Sie unternimmt Reisen im Heißluftballon und begleitet den Piloten Hubert Latham bei einer Kanal-Überquerung. in einem selbstgebauten Flugzeug.
1920 ist sie über vierzig, als sie mit dem fünfzehn Jahre jüngeren Architekten Jean Badovici eine Beziehung beginnt.
Der Rumäne, der in seinem ganzen Leben nur zwei Häuser entwirft, jedoch als Herausgeber der Zeitschrift „Architecture Vivante“ Bekanntheit erlangt, ermutigt seine Gefährtin, sich auch als Baumeisterin zu versuchen. Gray willigt ein. Sie wird ein Haus als Geschenk für ihn bauen, ein Strandhaus, das wie ein weißes Schiff vor Anker auf einem Felsen oberhalb der Küste von Roquebrune-Cap-Martin liegen soll.
1929 ist der Bau fertiggestellt. Es ist ein Meisterwerk! Gray gibt ihm einen Namen: Villa E-1027. Was so nüchtern klingt wie eine industrielle Seriennummer, ist ein romantischer Code. Das E steht für Eileen, die Ziffer 10 für die Position von J wie Jean im Alphabet, die 2 für das B in Badovici und die 7 für das G ihres Nachnamens Gray.
E.1027 ist ein Gegenentwurf zu den an der Côte d’Azur üblichen Protzvillen
Das Haus ist klein, hat insgesamt nur 120 Quadratmeter Wohnfläche. Der einzige große Raum im Obergeschoss ist Schlafzimmer, Salon und Esszimmer in einem. Die Farben sind zurückhaltend: Weiß, Schwarz, Grau, Blau, Braun. Die Türen sind schmal, die Fenster bodentief. Fürs Frühstück im Bett entwirft sie den legendären «Adjustable Table» aus Glas und Stahl, der bis heute zu den meistkopierten Möbelikonen gehört.
Wahrscheinlich hat es hier Momente des Glücks zwischen ihr und Badovici gegeben, oben auf der Dachterrasse etwa, mit Blick auf die Plage du Buse und das benachbarte Monaco, das damals noch kein betonierter Albtraum war. Aber die Beziehung des Paares ist schon 1932 beendet, drei Jahre nach Fertigstellung des Hauses. Gray ist jetzt 54, sucht Rückzug und Ruhe, Badovici dagegen Umtrieb und den Umgang mit Freunden.
Zu diesen gehört auch der Architekt Le Corbusier, von Anfang an ein Bewunderer des Hauses, das leiden nur den einen Fehler hat: Nicht er hat es entworfen, sondern seine ehemalige Schülerin. Aber vielleicht kann man es ja symbolisch in Besitz nehmen, jetzt, wo die Dame des Hauses weg ist? Seine Wände, von Eileen Gray bewusst weiß gelassen, in die sich ihre selbstentworfenen Möbel so harmonisch einfügen, besudeln?
„Ich habe eine verrückte Lust, dir die Wände zu versauen“, schreibt Le Corbusier an Badovici.
Er rückt an, mit Pinseln und Farbtöpfen. Splitternackt posiert er für ein Foto in Aktion. Eileen Gray ist entsetzt, als sie von Le Corbusiers Eingriffen hört. Sie nennt seine sieben Wandgemälde mit nackten Frauenfiguren schlicht „eine Vergewaltigung“. Nie wieder wird sie das in ihren Augen entweihte Haus betreten. Sie zieht sich zuerst in ein Haus bei Menton, später in die Nähe von Saint-Tropez zurück und gerät in Vergessenheit.
Le Corbusier ist inzwischen so berühmt, dass ihm sogar Häuser zugeschreiben werden, die er gar nicht entworfen hat. Nicht dass es ihn störte! Er dachte gerne an E.1027 als sein Werk und korrigierte niemals die gängige Meinung, er sei der Erbauer des Hauses. 1949 kommt er, um seine Wandmalereien zu restaurieren.
Nur wenige Schritte vom Haus entfernt wird das Restaurant „L‘Etoile de Mer“ eröffnet. Sie wird zur Kantine von Le Corbusier und seinen Gästen. Der Architekt überredet den Besitzer des Restaurants, ihm als Honorar für den Bau von fünf Gästehütten einen Teil des Grundstücks zu überlassen. Dort baut er sich sein „Cabanon“, eine einfache Holzhütte. Von dort hat er nun E.1027 direkt im Blick.
Le Corbusier badet 1965 an der Steilküste, genau unter E.1027 im Meer, als er einen Herzinfarkt erleidet.
Das letzte, was er sieht, ist Grays Haus. Eileen Gray überlebt den Architekten, der einst als Frevler in ihrem Haus wütete, um mehr als ein Jahrzehnt, den jüngeren einstigen Geliebten gar um zwei Jahrzehnte. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs lebt sie abgeschieden in ihrer Pariser Wohnung. Sie stirbt 1976 mit 98 Jahren.
Seit 1999 gehört das Haus samt Grundstück dem französischen Staat. Es wurde restauriert und ist seit 2021 der Öffentlichkeit zugänglich. Seitdem sind Le Corbusiers Malereien hinter Klappwänden verborgen. Gut so!
Ein später Triumph, auch über Le Corbusier, wurde Gray 2009 posthum zuteil. Bei der Versteigerung des Nachlasses von Yves Saint Laurent wurden auch vier Möbelstücke von Eileen Gray angeboten. Drei davon erzielten jeweils Preise zwischen drei und vier Millionen Euro. Das vierte, ein Sessel aus dem Jahr 1917, kletterte auf 19,5 Millionen Euro – der höchste Preis, der jemals für ein Möbelstück aus dem 20. Jahrhundert auf einer Auktion gezahlt wurde.
Das Haus kann nur nach vorheriger Anmeldung besucht werden; capmoderne.com/fr/
Schöne Weihnachten, alles Gute für das neue Jahr, bleiben Sie gesund und zuversichtlich und bis bald nach den Feiertagen!