Das muss man erst mal bringen: eine Autobiographie schreiben, die das eigene Leben erzählt und zugleich das Leben aller Menschen, die zur selben Zeit gelebt haben. Die Biografie einer ganzen Epoche also. Wie der französischen Autorin Annie Ernaux dieser Geniestreich gelingt? Verkürzt gesagt: Indem sie Persönliches mit gesellschaftlichen Ereignissen verquickt, also Stationen ihres eigenen Werdegangs in die Beschreibung einer ganzen Gesellschaft verwandelt.
Die 1940 in einem kleinen Ort in der Normandie als Tochter einer Arbeiterfamilie geborene Schriftstellerin skizziert in ihrem Buch – ausgehend von Fotos und Videoaufnahmen – Stationen ihres Lebens von den Fünfziger Jahren bis nach der Jahrtausendwende. Sie entwächst ihrer kleinbürgerlichen Familie durch Bildung und Unangepasstheit. Sie wird Lehrerin, heiratet, bekommt zwei Söhne und zieht mit ihrer Familie in einen Vorort von Paris. Brav absolviert sie das ganze Programm: Hausbau, Hypothekenkredit, Doppelbelastung. Nebenbei träumt sie davon, Schriftstellerin zu werden. Dann kommt der Mai 1968 und wirbelt alles durcheinander. Ihre Ehe zerbricht, mit einem jungen Geliebten genießt sie das wiedererwachte Begehren. Doch die Zeitspanne, in der die Frauen mit der Legalisierung von Pille und Abtreibung ebenso bedenkenlos Sex haben konnten wie die Männer, währt nur kurz, bis die Verbreitung von Aids ihre Freiheit wieder einschränkt. Berührend erzählt sie von der gemeinsamen Zeit mit ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter und von ihrer eigenen Brustkrebserkrankung.
Das Hauptaugenmerk Annie Ernauxs liegt auf der Alltagsgeschichte. Ein anrührendes Leitmotiv ihres Buchs ist das klassische französische Festessen im Kreis der Familie. Die Autorin beschreibt hier, wie sich im Wandel der Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg die Gepflogenheiten und Gesprächsthemen bei Tisch verändern. Ein weiteres Thema sind die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen von der Invasion der amerikanischen Popkultur über den Vietnamkrieg, Tschernobyl, die Kriege im Nahen Osten, die Balkankriege, der Mauerfall, 9/11, die Aufbruchsstimmung der 68er bis hin zur großen materiellen Wohlstandsflut: „Die Gesellschaft bekam einen neuen Namen, sie hieß jetzt ‚Konsum-Gesellschaft‘. […] Die Zeichen der Zeit standen auf Geldausgeben, und so schaffte man sich unermüdlich Gebrauchsgegenstände und Luxusgüter an. Man kaufte eine Kühl- und Gefrierschrank-Kombination, einen Renault 5, […] man erwarb einen Farbfernseher. Bunt war die Welt viel schöner […]. Die Werbung zeigte, wie man zu leben, sich zu verhalten, und seine Wohnung einzurichten hatte, sie war die Kulturanimateurin der Nation.“
Ich habe schon lange keine Biographie mit mehr Begeisterung gelesen. Wer als Leser das Pech hat, selbst zu schreiben, möchte nach der Lektüre dieses Buches sofort den Griffel fallen lassen und nie wieder eine Zeile zu Papier bringen. Kein Neid, nein, aber große Bewunderung bis hin zum genialen letzten Satz: „Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“