Er ist ein Paukenschlag von einem Hosenanzug! Ein bisschen schrill und wahnsinnig. Die Hose ist geradezu maßlos, sie sieht aus wie 10 Nummern zu groß. Sie ist überlang, hat ein sehr weites Bein und einen hohen, weiten Bund. Gehalten wird sie durch ein langes Stoffband, das knapp unter der Brust am Rücken geknotet wird Das schmal geschnittene, hüftlange Jackett ist kragenlos. Es wird asymmetrisch geknöpft, wobei sich der Stoff zwischen den Knopflöchern leicht wulstet. Das Material ist ein grober Wollstoff in einem Pfeffer und Salz-Ton.
Wie fast jedes meiner Kleidungsstücke so erzählt auch der Anzug eine Geschichte. Sie beginnt an einem Abend vor 14 Jahren. Ein Freund hatte sich nach langer Zeit mal wieder am Telefon gemeldet und berichtet, er lebe jetzt in Nizza. Am Ende des Gesprächs sagte er: „Wenn Du je an die Cote d´Azur kommst, werde ich sie dir zu Füßen legen.“ Mir die Cote d´Azur zu Füßen legen? Ich muss zugeben, dass das Angebot mir schmeichelte, doch insgeheim dachte ich: Wie kann man nur so einen Blödsinn reden?
Es folgte eine Zeit, die schwierig war. Ich war lange krank und um etwas zu haben, auf das ich mich freuen konnte, fassten Cerstin und ich den Plan, zusammen nach Nizza zu fahren, wenn es mir wieder besser ginge. In Nizza, so unser Vorhaben, wollten wir das Leben feiern.
Auf der Liste sehr schöner Urlaube nimmt diese Reise bis heute einen besonderen Platz ein. Wir amüsierten uns und spielten reich und schön. Unser Apartment sah aus wie aus dem Heft. Morgens saßen wir auf der Terrasse und blickten auf die Stadt und die im Sonnenlicht glitzernde Bucht, tranken Milchkaffee aus großen, weißen Schalen und aßen frische Feigen, Trauben und Käse. Mittags kam der Freund. Tatsächlich legte er uns die Cote zu Füßen. Eine Woche lang. Jeden Tag. Mit einem schwarzen Sechszylinder schubberten wir durch die Kurven der Corniche. In Ligurien aßen wir Pasta mit schwarzen Trüffeln. In Cannes brachen wir unseren eigenen Rekord und schafften 15 Schuhgeschäfte in einer Stunde. Auf dem Friedhof von St Paul de Vence legten wir einen Stein auf das Grab von Chagall. Zum Sonnenuntergang tranken wir Cocktails an der Poolbar des Grand Hotel du Cap. Jeden Abend trafen wir uns mit dem damaligen Schwarm meines Freundes, dem umwerfendsten Italiener aller Zeiten, einem Herrn mit dem schönen Hausnahmen Frangipani. Am vorletzten Tag der Reise schlenderten wir durch die Rue du Paradis in Nizza und hielten vor der lillith Boutique inne. Im Fenster stand eine Puppe, der ein kluger Schaufensterdekorateur einen braun-rot karierten, bodenlangen Rock aus mehrlagigem, bauschigem Chiffon zu einem Plastiktrench im Schottenmuster angezogen hatte. Dazu hatte er braune Bikerstiefel und eine braune Postbotentasche drapiert. Das passte irgendwie gar nicht und dann aber doch wieder überraschend gut zusammen und wirkte lässig. Wir betraten das Geschäft. Schon auf der Türschwelle entdeckte ich hinten links auf der Kleiderstange den Anzug und probierte ihn an. Er war absolut perfekt. Doch leider war er auch teuer. Deshalb kaufte ich nur die Hose vom Anzug und ließ die Jacke hängen.
Es gibt Dinge, die ich erst spät im Leben gelernt habe. Dazu gehört, dass man sehr selten ein Kleidungsstück findet, in dem man den Rest seines Lebens verbringen könnte. Mir ist das nur drei Mal passiert, mit einem Mantel, einem Pullover und eben diesem Anzug. Von Cerstins Schwester habe ich gelernt, dass man diese Momente erkennen und bereit sein muss, in das Kleidungsstück zu investieren, selbst wenn es den Preis einer Einbauküche hat. Nicht dass damit angedeutet werden soll, dass der Anzug so teuer wie eine Einbauküche war. Das war er keinesfalls, aber er kostete halt richtig Geld. Das wollte ich in dem Moment nicht ausgeben.
Die Hose verzieh mir nicht, dass ich sie als Solitär eingekauft hatte. Oder verzieh ich mir nicht, dass ich es mir nicht wert gewesen war, den kompletten Anzug zu erwerben? Jedenfalls erwies sich die Hose zu Hause als störrisch. Sie war schwer zu kombinieren. Nichts passte zu ihr. Keine Jacke, kein Mantel, kein Pullover. Sie schmollte und fristete ein tristes Leben zumeist im dunklen Kleiderschrank. Bis eines guten Tages doch noch die Jacke kam.
Wie Cerstin es angestellt hat, die Jacke aufzufinden, ist mir ein Rätsel geblieben. Ein gehöriges Maß an Findigkeit und Beharrlichkeit muss im Spiel gewesen sein. Telefongespräche wurden geführt, nach Nizza und ins lillith Headquarter, wo herausgefunden wurde, dass in einem Geschäft in Aachen eine Jacke in der passenden Größe hing. Dorthin fuhr Cerstin und kaufte die Jacke als Weihnachstsgeschenk für mich ein.
So ein Hosenanzug ist ein trefflicher Anzug für eine Frau, die eigentlich keine Anzüge für Frauen mag und bei ihrer Arbeit auch keinen tragen muss. Er ist nicht anfällig für Knitterfalten, komfortabel genug für ein Mittagsschläfchen auf der Couch und macht auch lange Flugreisen mit. Ich kombiniere ihn mit gestreiften Shirts, mit einer weißen Bluse mit großen, roten Punkten oder gleich mit Blumenmuster. Dazu trage ich Turnschuhe, Ballerinas, dicke Schuhe mit Kreppsohle oder Kitten Heels. Alles geht. Ich sehe in dem Hosenanzug ein bisschen spleenig und schlaksig aus, aber auch so, als habe ich die Hosen an. Was ja nicht schaden kann.
Jedes Kleidungsstück hat ein menschliches Pendant. Wenn die kleine Strickjacke die Nonne ist und die Abendrobe der Filmstar, ist mein Hosenanzug der Mensch, der die Regeln bricht, Verwirrung stiftet und tradierte Vorstellungen verrückt. Der Künstler. Doch ich trage den Hosenanzug nicht, um damit zu provozieren. Auch nicht, um möglichst gut auszusehen oder mehr darzustellen, als ich bin. Manchmal trage ich ihn, wenn ich mich stoßfest vor der kalten Wirklichkeit schützen möchte. Oder wenn ich das Bedürfnis habe, mich zu verbergen. Ich ziehe den Hosenanzug an und weg bin ich. Der Anzug sagt dann: „Ich. Ich. Ich.“ Seine Optik zieht die Blicke der Anderen auf sich und lenkt sie von mir ab. Ich werde dann ganz frei.
(Hosenanzug: lillith, Bluse: Marc Cain, Schuhe: Raboutin)