Zur Erinnerung: 2015 gab es plötzlich ein neues IT-Girl: die 80jährige amerikanische Schriftstellerin Joan Didion. Das Label Céline heuerte sie als Werbeikone für die Sommerkollektion an. Auf den Fotos sieht man eine kleine Frau. Sie sitzt leicht vornübergebeugt auf einem Sofa, die Schultern sind nach vorne gezogen, sie trägt einen langärmeligen schwarzen Pullover, der den dünnen, faltigen Hals nicht verdeckt, auf dem der Kopf mit dem weißblonden Bob sitzt. Das linke Ohr hat sich durch die Haare gewühlt und guckt frech heraus wie bei einem Mädchen, das vom Toben kommt. Doch sieht man bei aller Mädchenhaftigkeit Didions, dass sie nicht vom Toben kommt. Das Gesicht ist müde vom Leben, die Wangen sind weiß und mürbe. Die Lippen tragen einen Hauch von roséfarbenem Perlmutt, und die Augen sind hinter einer gigantischen schwarzen Sonnenbrille von Céline verborgen.
Celines Werbekampagne mit Joan Didion fiel mir wieder ein, als mir ihr Buch „Das Jahr des magischen Denkens“ in die Hände fiel. Sie versucht darin, den Tod ihres Mannes, des Schriftstellers John Gregory Dunne, zu verarbeiten. Liebe und Tod, das interessiert die Leute, und mich auch. Doch noch mehr interessierte mich zunächst die Autorin. Auf dem Foto auf der Rückseite sieht man sie als junge Frau. Sehr cool, sehr chic, Typ Hauptdarstellerin in einem Godard-Film. Sie lehnt sich über das Geländer ihres Strandhauses im kalifornischen Malibu, mit Blick auf den Pazifik, neben sich ihren Mann und ihre Tochter Quintana, die das Paar als Baby adoptierte.
In dem Buch beschreibt sie das Jahr nach dem Tod von Dunne, der am 30. Dezember 2003 in der Wohnung des Paares in der Upper East Side von Manhatten einen tödlichen Herzinfarkt erlitt, während Didion in der Küche einen Salat zubereitete. Zu dieser Zeit kämpfte die Tochter schwerkrank in Krankenhäusern um ihr Leben, sie starb 2005. Didion stellt erschütternd präzise dar, wie der Schock über den Verlust ihres Mannes und lebenslangen Partners sie an den Rand des Wahnsinns führt. Sie glaubt, ihn zurückholen zu können, indem sie dafür sorgt, dass seine Dinge so liegen bleiben, wie er sie zuletzt benutzt hat. Was schadhaft ist, lässt sie reparieren, wie z.B. seine Schuhe. Schonungslos beschreibt sie, wie Leere, Einsamkeit und Sinnlosigkeit ihr Leben beherrschen und der Schmerz sie fast auslöscht.
Das Buch erhielt den National Book Award und wurde ein Welterfolg. 2007 wurde es als Ein-Personen-Stück mit Vanessa Redgrave am Broadway aufgeführt. Ich verleihe ihm zusätzlich meinen persönlichen „Mein Buch des Jahres“-Preis. Kein Wort in diesem Text ist zu viel, jeder Satz ein Schlag. Didions Stimme, nüchtern und radikal, vermeidet jede Art von Dramatisierung oder Rührseligkeit. Das finde ich bewundernswert, denn ich selbst würde wahrscheinlich ganz anders mit einer solchen Situation umgehen.