Ich begegnete ihm im Museum und war schockverliebt. Vermutlich hat ihn eine junge Frau in den 1920er Jahren aus dem zartglänzenden, lachsrosa Kunstseidengarn gehäkelt. Der an zwei kleine, runde Zierdecken erinnernde BH ist kein stützendes oder formgebendes Wäschestück. Er passte sich dem Körper der Frau an und sollte den weiblichen Busen vorrangig bedecken und nicht straffen, heben oder halten. Er sagte über die Trägerin aus: Ich bin eine moderne Frau. Ich bewege mich ohne Zwänge. Ich bin frei.
Der BH ist mit dem gesellschaftichen Blick auf die Frau verknüpft.
Bevor der BH vor gut 100 Jahren von der Amerikanerin Mary Phelby Jacob erfunden wurde, zwängten sich Frauen in ein enges Korsett, das auch Ausdruck eines starren Frauenbildes und fest zementierter Geschlechterrollen war. Am 3. November 1914 ließ Mary Phelby Jacob den Büstenhalter zum Patent anmelden. Das Modell war schlicht: ein großes Stück Stoff mit zwei Trägern, das die Brust fast verschwinden lässt. Doch schnell entwickelte sich der BH zum Massenprodukt für moderne Frauen, die sich emanzipierten, Berufe ergriffen, Kurzhaarschnitte trugen und sich das Wahlrecht erkämpften. Damit einher ging, dass die weibliche Silhouette in den Hintergrund trat.
Die Geschichte des Büstenhalters spiegelt politische und kulturelle Umbrüche wider: Von den frühen Frauenrechtlerinnen im Kampf gegen das Korsett über Hollywoods Busenwunder bis hin zu Protesten gegen das Symbol männlicher Unterdrückung der 68er-Generation ist der BH stets untrennbar mit dem gesellschaftlichen Blick auf die weibliche Brust verknüpft.
Und heute?
Von den Werbeplakaten an der Straßenbahnhaltestelle kennen wir diese Szenen: Eine Frau mit zerzausten, wie gerade aus den Bettlaken gewundenen Haaren räkelt sich in kompliziertem Nietengeschirr und High Heels mit sehr hohen und sehr dünnen Absätzen in einer leeren Badewanne. Oder sie stakst in einem Satin- und Tüllgewitter à la Marie Antoinette durch ein Feld blühender Hortensien. Das, was sie trägt, nennt sich nicht mehr BH, sondern Lingerie oder Dessous und kostet Hunderte von Euros. Hergestellt wird es von Firmen, deren Namen etwas über den erwünschten Auftritt der angesprochenen Käuferin verraten. Sie heißen: Agent Provocateur, Victoria´s Secret, La Perla, Passionata oder Chantelle.
Ich wünsche mir den leichten, wunderschönen BH von 1920 zurück. Die Frage, ob ihn eine Frau reiferen Alters, die keinen ganz knackigen Busen mehr hat, tragen kann, ist mir dabei nicht wichtig. Wir reiferen Frauen, die wir viel gesehen und erlebt haben und die wir ein unabhängiges Leben leben, haben Wichtigeres zu tun, als darüber nachzudenken, ob unsere Unterwäsche unserem Alter angemessen ist. Von Zahlen lassen wir uns nicht begrenzen. Und bei unserer Kleidung suchen wir vorrangig nach Teilen, in denen wir genug Luft zum Atmen haben.
Gesehen in der Ausstellung „nützlich & schön“ Produktdesign von 1920-1940″ im LVR-Industriemuseum Peter Behrens Bau in Oberhausen. Noch bis zum 23. Februar 2020.
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