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Ist Sticken spießig oder sexy? Was ich in Elisabeth Masés Stick-Projekt „Das Kleid“ erlebte.

Ab einem gewissen Alter, so ungefähr ab 14, hatte das Wort „Sticken“ für mich einen sagenhaft faden Beigeschmack. Das lag an meiner Schule, einem Mädchengymnasium mit drei Zweigen. Die Neusprachler fuhren zum Schüleraustausch nach Paris, rauchten danach zu Hause Mentholzigaretten in langen Zigarettenspitzen und tranken auf ihren Parties giftgrünen Pfefferminzlikör. Die Naturwissenschaftler trugen Faltenröcke und Zöpfe, sie feierten nicht. Es gab auch noch die ganz Bedauernswerten. Sie besuchten den Hauswirtschaftszweig, lernten kochen und sticken, würden später mal Ehefrau und Mutter sein und gar kein Leben haben.

Sonntagnachmittag gegen 15 Uhr. Ich sitze unter den hohen, alten Bäumen im Innenhof des Bielefelder Kunstvereins. In der rechten Hand halte ich eine kleine Sticknadel mit einem roten Faden, in der linken ein längliches Stück Stoff. Es soll der Ärmel eines Kleides werden und mein Job hier ist, ihn mit einem selbst gewählten Motiv zu besticken. Eigentlich möchte ich „Gesundheit, Glück, Geld“ sticken. Doch wie stickt man das – wenn man gar nicht sticken kann? Man bescheidet sich und stickt eine Sonne. Ein Kreis, ein paar Linien, fertig.

Meine Nachbarin zur Linken ist eine Bielefelder Künstlerin. Sie stickt nicht nur fantastisch, sie ist auch sehr hilfsbereit und erklärt mir ihren Stickstich. Ganz einfach, sagt sie. Ich fädele den roten Faden in meine Sticknadel ein, steche in den Stoff, ziehe die Nadel unter ihm hindurch. Und wie geht es dann weiter? Die Nachbarin hilft noch mal aus. Die Abfolge der Stiche müsse mir in Fleisch und Blut übergehen, sagt sie. Ah ja. Einstechen, die Nadel durch die Lasche ziehen, rechts daneben einstechen – und schon ist das Chaos da. Ein Knoten hat sich gebildet, anscheinend ist es mir nicht gegeben, mir einen Stickstich zu merken. Komm, ich zeigs Dir noch mal, sagt die Nachbarin. Allmählich wird es was.

Rechts neben mir sitzt eine Frau, mit der ich nur mühsam kommunizieren kann. Sie trägt Kopftuch, sie wirkt sehr ernst. Ihr Deutsch ist nicht gut, mein Arabisch ist nicht vorhanden. Sie stickt üppige Blumen, einen Baum mit Blättern und Früchten, einen Geburtstagskuchen mit drei Kerzen. Ich staune, denn schließlich dilettiere ich seit zwei Stunden an meiner Sonne herum. Es ist Maisaa. Sie ist 32 Jahre alt, stammt aus Syrien und lebt seit einigen Monaten mit ihrer Familie in einer Notunterkunft. Der Geburtstagskuchen ist für eins ihrer Kinder, sie hat vier, das älteste ist 14. Jetzt stickt Maisaa sehr schöne und komplizierte Zeichen. Was bedeutet das? frage ich sie. Es sind arabische Buchstaben, das Wort Syrien. Hat sie Heimweh? Sie versteht mich nicht. Sehnsucht nach der Heimat? Sie versteht mich nicht. Ich sage „Syrien“ und verschränke meine Hände über dem Herzen. Jetzt nickt sie und sagt sehr leise: „Aleppo. Meine Stadt. Mein Vater. Ich Heimweh.“ Ab jetzt wird unsere Kommunikation leichter. Wir begreifen, dass wir, weil uns die Worte fehlen, die Sprache des Herzens sprechen müssen. Das gemeinsame Sticken schafft die Basis dazu. Es verbindet uns.

Wir sind 14 Stickerinnen, 7 Bielefelderinnen und 7 Frauen, die aus ihren Heimatländern fliehen mussten und neu in Bielefeld angekommen sind. Wir sind fast noch Kinder oder schon Großmütter. Wir leben im Penthaus, in der kleinen Etagenwohnung oder im Flüchtlingsheim. Wir glauben an Allah, Gott oder Niemanden. Doch hier am Sticktisch sind wir alle gleich. Wir tragen alle das gleiche rote Kleid, unsere Stickuniform. Sie ist schmal, lang, ärmellos und hat einen runden Ausschnitt. Sie verrät nichts darüber, wer wir sind oder wer wir sein möchten, ob wir viel oder wenig Geld haben. Wir sind Frauen aus Syrien, dem Irak, Eritrea, Armenien und Bielefeld. Wir mögen uns noch fremd sein, aber hier am runden Tisch sehen wir alle gleich aus. Wir haben alle die gleichen Wünsche. Wir sticken Sonnen, Blumen, den Eiffelturm und immer wieder die Namen unserer Männer und Kinder. Eine von uns stickt das Wort „Frieden“ in den weichen Leinenstoff.

Wir Handarbeiterinnen im roten Kleid sind Teil des Kunstprojekts „Das Kleid“, einer sozialen Skulptur, wie Elisabeth Masé, die Initiatorin der Stickwerkstatt, es nennt. Im Sommer 2016 hat sie in der Berliner Galerie Katharina Maria Raab erstmals ihre Stickwerkstatt mit Berlinerinnen und in Berlin lebenden Migrantinnen durchgeführt. Wir haben damals hier im Blog darüber berichtet. Jetzt hat sie das Stick-Projekt nach Bielefeld gebracht, wo sie es in Kooperation mit dem Bielefelder Kunstverein, der Kunsthalle Bielefeld, dem Künstlerinnenforum Bielefeld-OWL e.V. und zahlreichen ehrenamtlichen Helfern und Sponsoren durchführt.

Wir sticken öffentlich, vor Publikum. Zuschauer sind ausdrücklich erwünscht und eingeladen, in unserer Runde Platz zu nehmen und einen Teil des Kleides zu besticken. Unsere Familien und Freunde kommen vorbei, aber auch fremde Besucher. Einige nehmen auf Stühlen Platz und schauen uns zu. Andere sprechen uns an, stellen Fragen zu den Motiven, die stickend entstehen. Zeig mir, was Du stickst und ich sage Dir, wer Du bist, funktioniert in der interkulturellen Stickwerkstatt allerdings nicht. Elisabeth dirigiert uns kaum merklich. Sie bittet uns, unsere Plätze zu tauschen, bereits Gesticktes zu ergänzen, stickend miteinander in einen Dialog einzutreten. Die so entstehenden Formen sind keiner einzelnen Stickerin mehr zuzuordnen. Sie sind vielschichtig, manchmal auch verwirrend.

Dann erzählt Elisabeth von Peter Handke. Ob wir wüssten, dass er der berühmteste Sticker sei? Ich bin erstaunt, ich wusste es nicht, aber ich sehe ihn da sitzen. Peter Handke mit langem. grauen Haar in seinem verwunschen, mit Efeu bewachsenen Haus bei Paris. Er hockt wischen Büchertürmen und Bergen von Manuskripten, natürlich allein. Er hört Vivaldi, er raucht im Zustand vollkommener Entschleunigung ein Mentholzigarettchen in der langen Zigarettenspitze. Er greift zum Glas mit dem Menthollikör, bei ihm ist er allerdings mattgrün, und nimmt bedächtig einen kleinen Schluck. Und endlich zieht er den roten Faden durch das Nadelöhr, damit er weitersticken und Raum und Zeit vergessen kann.

Bielefelder Kunstverein im Waldhof, Welle 61, 33602 Bielefeld. Jeden Samstag und Sonntag im Juni von 12 bis 19 Uhr. Kommen Sie gerne vorbei!

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4 Kommentare

  1. 13/07/2017 / 09:15

    Eine wundervolle Idee, ganz toll!

    Herzliche Grüße
    Dani

  2. Ursel
    Autor
    13/07/2017 / 16:24

    Liebe Dani, vielen Dank für Deine Rückmeldung. Ab morgen kann man die Kleider, die wir bestickt haben, ganz in Ruhe betrachten. Sie werden in der Kunsthalle Bielefeld ausgestellt. Herzliche Grüße und weiterhin viel Erfolg mit Deinem Blog, Ursel

  3. 18/08/2019 / 15:55

    Auch beim Lesen werden meine Erinnerungen jedesmal lebendig. Nach über zwei Jahren

    umso mehr. Und so geben mir auch diese Texte wieder viel Lebenskraft und Mut.

  4. Ursel
    Autor
    18/08/2019 / 17:11

    Wie mich das freut, liebe Marion! Alles Liebe und Gute für Dich.

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