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Warum jetzt alle Augen auf Niki de Saint Phalle gerichtet sind

Niki de Saint PhalleNiki de Saint Phalle (1933-2002) war eine einzige Herausforderung für ihre Zeit. Sie wurde geliebt und gehasst, als charismatische Femme Fatale bewundert und von der männlich dominierten Kunstwelt kritisch beäugt. Weltberühmt wurde sie mit ihren bunt bemalten, fülligen Frauenfiguren, den Nanas.

In diesem Frühjahr ist das Biopic „Niki de Saint Phalle“ in unseren Kinos angelaufen. In ihrem Regiedebüt zeichnet die Schauspielerin Céline Sallette, die hier zum ersten Mal Regie führt, das mitreißende Portrait der Künstlerin als eine Frau, die sich selbst treu bleibt, indem sie sich ganz neu erfindet. Sie hatte die Autobiographie von Niki de Saint Phalle gelesen und darin eine „Phönix aus der Asche“-Geschichte entdeckt. Es ist ein beeindruckender Film darüber, wie die hochsensible, ehrgeizige und unerschrockene junge Frau zur selbstbewussten Künstlerin wird.

Die Vernissage in einer Pariser Galerie, bei der man gerne Gast gewesen wäre.

Das Publikum wartet lange auf das Entrée der Hauptperson. Da betritt sie den Raum, nein, sie schwebt hinein. Sie ist Mitte 20, groß, schmal, eine betörende Schönheit in kniehohen, schwarzen Lederstiefeln und einem selbst entworfenen, engen, weißen Overall mit Steghosen und schwarzen Stehkragen und schwarzen Bündchen; es ist ihr Kampfanzug. Das einstige Model und Covergirls streicht sich die Haare aus dem Gesicht, bevor sie ihre Performance beginnt. Vor ihr stehen aus Gips gefertigte Köpfe von Politikern, sie hat diese Reliefs selbst hergestellt und mit Farbe gefüllte Plastikbeutel in sie eingearbeitet. Langsam legt sie das Gewehr an, sie hat es sich an einer Schießbude auf dem Rummelplatz geliehen, und zielt damit auf die Köpfe. Päng! Smaragdgrün, Orange, Dunkelblau und leuchtendes Pink tropfen wie Blut aus den Einschusslöchern. Sie färben die schneeweißen Köpfe, die aussehen, als würden ihre Eingeweide aus ihnen heraustreten und vor den Augen des Publikums verenden.

Die spektakulär inszenierte Kunstaktion macht Niki de Saint Phalle (1933-2002) über Nacht zum It-Girl der Pariser Kunstszene.

Die Kunstwelt erkennt die Aufrichtigkeit und Wut, mit der die Künstlerin ihre persönlichen Gefühle über ihre stark belastete Kindheit zum Thema ihrer Arbeiten macht, und ist berührt. Die Tochter einer amerikanischen Erbin und eines adligen französischen Bankiers wurde nach der Geburt bei Verwandten auf den Schlössern ihrer väterlichen Familie „geparkt“ und von Kindermädchen betreut. Erst als sie 3 Jahre alt ist, holen die Eltern sie zu sich auf die Upper East Side nach New York. Mit 70 Jahren bricht sie ihr Schweigen über ihre strenge Erziehung in Klosterschulen und das Trauma des sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater. Sie schreibt in ihrem Buch „Mon secret“. „Es waren Familiengeheimnisse, ich konnte sie niemandem erzählen. Sie stellten mich außerhalb der Gesellschaft. Ich war intelligent genug, nicht darüber zu sprechen. Man hätte mich nur als Lügnerin bezeichnet“.

Niki de Saint Phalle rebelliert früh gegen die konservativen Rollenmuster der frühen Fünfzigerjahre. Zu ihrer erzkatholischen Mutter hat sie ein Leben lang ein schwieriges Verhältnis. „Meine Mutter hatte einen Schrank mit Bettwäsche. Ich erinnere mich, wie ich ihr beim Einräumen zusah und zu ihr sagte: Das werde ich nie machen, wenn ich groß bin. Ich werde niemals die Bettwäsche zählen. Sie gab mir eine Ohrfeige.“

Mit 17 flieht sie mit einem jungen Schriftsteller, wie sie Kind wohlhabender Eltern von der Upper East Side, von zu Hause, ohne die geringste Ahnung, was aus ihr werden könnte.

Beide sind 18, als sie heiraten und bald darauf Eltern einer Tochter werden. 1950 ziehen sie gemeinsam ins Nachkriegs-Frankreich. Um Geld  zu verdienen, beginnt Niki de Saint Phalle in Paris eine Karriere als Fotomodell. Sie erscheint auf den Titelbildern von Life und Vogue. Doch das Trauma ihrer Kindheit holt sie wieder ein. Aufgrund von Depressionen wird sie in eine psychiatrische Klinik in Nizza eingewiesen und, wie damals üblich, mit Elektroschocks behandelt. In ihrer Not vertraut sie sich dem Klinikleiter an, doch der vertuscht den Missbrauch ihres Vaters.

In dieser schwierigen Lebensphase entdeckt Niki de Saint Phalle die Malerei für sich.

Sie wird für sie zu einer lebensrettenden Passion. 1956 begegnet sie dem Schweizer Bildhauer Jean Tinguely. Ein Mann aus einer anderen Welt. „Ich glaube, ich habe mich an dem Abend in Jean verliebt, als er mich zum Essen eingeladen und seine Zigarette im Butterfass ausgemacht hat. Aus dem Milieu, aus dem ich kam, konnte ich nicht anders als fasziniert zu sein von der gänzlichen Abwesenheit sozialer Tabus.“

Ein Wendepunkt in Niki de Saint Phalles Leben ist ein Abendessen, auf dem ihr eine schon arrivierte Malerin vorwirft, sie sei nur „eine Ehefrau, die malt.“  Sie fühlt, dass sie sich entscheiden muss: Kunst oder Kinder. Sie verlässt ihre Familie, lässt ihre zwei Kinder bei deren Vater zurück und zieht zu Tinguely in den Impasse de Ronsin, eine Künstlersiedlung im Pariser Montparnasse. Dort haust sie in einem Schuppen ohne Badezimmer. Doch wenn sie vor die Tür geht, steht sie in einem Garten, mitten in Paris. In der distinktionssüchtigen Welt der Kunst werden Tinguely und Niki de Saint Phalle schon bald zu einem glamourösen Paar. Trotz Spannungen und mehrerer Trennungen werden sie ein Leben lang eng verbunden bleiben.

Die Künstlerin experimentiert mit ihrer Kleidung, ohne Angst, möglicherweise daneben zu liegen, und entwickelt ihren eigenen Stilkompass.

Bei ihr gibt es immer Beides: konservative Eleganz, mit der sie als französische Adlige aufwuchs, und schwelgerische Bohème. Dazu ganz viel Humor, der ihren Looks Eigenwilligkeit verleiht. Auf Flohmärkten und in Charity Shops findet sie in den Bergen von abgelegter Kleidung originelle Federjacken und immer wieder Hüte, die sie bei der Arbeit in ihrem Atelier trägt. Darunter einen altrosa Pelzhut, so groß wie ein Schwarzwaldmädelhut und einen aus der Zeit gefallenen Federhut in der Größe eines Wagenrads.

Eines Nachts hat die Autodidaktin einen Traum.

Niki de Saint Phalle sieht eine Frau, enorm groß, mit prallen Brüsten und ausladendem Po, lustvoll, bunt, doch ohne Gesicht. „Sie ist befreit von all dem Blödsinn. Ehe, Sentimentalität, Masochismus. Sie ist einfach sie selbst. Sie ist nicht unterdrückt. Sie braucht absolut keinen Mann. Sie kommt ganz allein zurecht. Sie ist unabhängig. Sie ist fröhlich.“ In diesem Moment sind die Nanas geboren, die die internationale Bekanntheit der Künstlerin begründen, ein großer kommerzieller Erfolg werden und bis heute als das Markenzeichen der Künstlerin gelten. Die farbenfrohen, kraftvollen Skulpturen stehen für eine weibliche Welt, die weiblichen Rollenbilder hinterfragt und im Verlauf der Jahre größer und größer wird.

1966 erweitert Niki de Saint Phalle, unterstützt von Jean Tinguely, ihr künstlerisches Spektrum.

Im Moderna Muset in Stockholm kreiert sie ihre größte und spektakulärste Nana. Die auf dem Rücken liegende, schwangere Riesin ist begehbar. Nicht nur ihre Größe, sie misst 28 Metern in der Länge, 9 Meter in der Breite und 6 Meter in der Höhe ist ein Tabubruch. Museumsbesucher müssen sie durch einen provokativen Eingang betreten, ihre Vagina. Im Inneren erwartet sie ein interaktiver Spielplatz. In der einen Brust befindet sich eine Milchbar, in der anderen ein Planetarium und im Körper ein kleines Kino mit Sofa. Eine Treppe führt durch ihren Bauch auf eine Aussichtsplattform.

1982 erteilt die Stadt Paris Tinguely den Auftrag zu einer Igor Strawinsky gewidmeten Brunnenanlage neben dem Centre Pompidou, den er gemeinsam mit Niki de Saint Phalle ausführt.

Die Künstlerin arbeitet überwiegend plastisch, fertigt aber auch Künstlerbücher und Zeichnungen an, deren Kennzeichen von ihr mit der Hand geschriebene Texte und fröhlich-bunte Figuren mit tiefgründigem Hintergrund sind. Sie stellt darin Fragen wie „My love where do we make love?“ und gibt viel Persönliches preis.

Ihr größtes Projekt verwirklicht sie mit einem extravaganten Skulpturengarten in Capalbio in der Toskana.

Insgesamt 20 Jahre arbeitet sie an diesem Lebenstraum. Gemeinsam mit Tinguely bestückt sie ihn mit großen, an Tarot-Karten angelehnte, mit Spiegelmosaiken verkleidete, große Plastiken. Doch deren Material, hochgiftiges Polyester-Kunstharz, gefährdet die Gesundheit der Künstlerin. Sie leidet schließlich unter einem Lungenemphysem. Nach Tinguelys Tod verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand. Sie zieht nach San Diego in Südkalifornien, das für sein mildes Klima bekannt ist. Dort ist Niki de Saint Phalle, Stilikone und eine der populärsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, am 21. Mai 2002 verstorben.

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Sie sind auf den Geschmack gekommen und möchten noch etwas weiter lesen über große Künstlerinnen und ihr aufregendes Leben? Hier erfahren Sie mehr über Maria Callas: https://stylerebelles.com/maria-callas-13-dinge-die-sie-ueber-sie-wissen-sollten/

Am 7. Mai um 20 Uhr lese ich aus meinem Buch „Exil im Paradies. Von Marta Feuchtwanger bis Helene Weigel“ in der Botnanger Bücherstube in Stuttgart (ausverkauft) und am 8. Mai um 19.30 Uhr in der VHS Stuttgart.

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