Es ist wie immer mit dem Centre Pompidou. Man sieht es schon von Weitem, und wenn man ganz nach dran ist, muss man es ein bisschen suchen. Man entdeckt es erst, wenn man von der Rue Beaubourg in die Rue Rambuteau abgebogen ist und fast schon davorsteht. Da ist es! Wie eine Weltraumstation ragt es aus den engen Häuserschluchten des Marais hervor. Noch immer eine Großarena des internationalen Kunstbetriebs. Immer gleich vier oder fünf große Ausstellungen im Angebot. Ein Publikumsmagnet wie eh und je.
In diesem Sommer steht das Centre Pompidou ganz im Zeichen deutscher Kunst aus den Jahren 1928 bis 1935.
Die größte Galerie in der 6. Etage ist einer Ausstellung der Kunstrichtung der Neuen Sachlichkeit gewidmet. Sie beginnt mit dem Porträt, das George Grosz von dem Schriftsteller Max Herrmann-Neisse gemalt hat: das Bildnis eines Mannes mit kahlem Schädel und dürren Fingern. Die Darstellung ist verstörend nüchtern, realistisch, kühl, sie macht keine Konzessionen, schon gar nicht an ein Schönheitsideal. All das sind die charakteristischen Stilmerkmale der Neuen Sachlichkeit.
Aushängeschild der Show ist Otto Dix´ Bild der Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber (1899-1929). Die Frau in Rot ziert das Eröffnungsplakat und wird zum Titelbild des Katalogs. Berber galt als DIE femme fatale der Zwanzigerjahre. Heute würde man sie Aktivistin nenne, Frauenrechtlerin, Stilikone und Influencerin. „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“, so hieß eines ihrer Programme , ein Tanz trug den Namen „Morphium“. Der Name war Programm. Berber war wie eine Kerze, die an beiden Enden brannte und schnell verglühte. Mit nur 29 Jahren starb sie an Tuberkulose. Auf dem Höhepunkt ihres Lebens stand sie für Dix Modell. Er malte die schöne Frau in dem für ihn typischen Stil, indem er das Eigenwillige, Exzentrische, auch das Groteske und Hässlichen hervorkehrte.
Auch der Kölner Fotograf August Sander (1876-1964) steht im Fokus der Ausstellung. Er war einer der einflussreichsten Fotografen des 20. Jahrhunderts, vor allem wegen seines Kultwerks „Menschen des 20. Jahrhunderts“, in dem er die Menschen seiner Zeit aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen porträtiert.
Malerei, Bildhauerei, Fotografie, Literatur, Architektur, Design, Theater, Film – die Bewegung der Neuen Sachlichkeit hat viele Bereiche der Kunst umfasst, wie die beiden Kuratoren in dieser hochinteressanten Ausstellung zeigen. Eine Mammutshow und -leistung! Und das Haus war erfreulicherweise voll, was das große Interesse des französischen Publikums an dieser Epoche der Kunst zeigt.
Nach dem Besuch der Ausstellung sitze ich im Museumsrestaurant „Chez Georges“ auf dem Dach des Centre Pompidou und trinke ein Glas Weißwein für sagenhafte 9 Euro.
Unten auf dem Platz kämpfen die Feuerschlucker, Sänger und die vielen Bettler um die Aufmerksamkeit der Touristen. Ich frage mich: Was tun mit dieser grandiosen Ausstellung, die über die Spannungen in der deutschen Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen des letzten Jahrhunderts erzählt? Die Analogien zu heute liegen auf der Hand: Wieder leben wir in einer Welt der polarisierten Gesellschaften. Gerade in einer Metropole wie Paris werden die Extreme zwischen arm und Reich sichtbar. Man sieht die herrschaftlichen Parks und Gärten, umgeben von hohen Eisengittern, die glamourösen Boutiquen und Kaufhäuser. Die Exklusivität in den teuren Stadtvierteln steht in einem krassen Gegensatz zu den Menschenmassen in der stickeigen Métro, den Obdachlosen auf den Gehwegen und den tristen Hochhaussiedlungen der banlieue am Stadtrand. Hier leben die Armen, offiziell als Teil von Paris, aber ohne einen Krümel vom Glamour und Luxus der Stadt abzubekommen.
Da fällt mein Blick auf den Strawinsky-Brunnen, der sich unten neben dem Centre Pompidou befindet. Tinguelys Pariser Wasserschöpfer und Niki des Saint Phalles wackelnde Nana-Figuren wurden entfernt. Sie stehen im Depot. Der Brunnen ist defekt. Er braucht eine umfassende Reparatur. Schade! Er hatte immer so etwas Heiteres, Tröstliches. Jetzt fehlt die frohe Botschaft: Nur keine Angst, so schlimm wie vor hundert Jahren wird es schon nicht wieder kommen.
Die Ausstellung „Allemagne / Années 1920 / Nouvelle Objectivité / August Sander“ im Centre Pompidou in Paris wird noch bis zum 5. September 2023 gezeigt.
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