Älterwerden ging wunderschönerweise noch nie so leicht wie gerade jetzt. Denn endlich tragen Menschen eines gewissen Alters ihre natürliche Haarfarbe: Grau. Weil Frisörgeschäfte immer noch geschlossen sind. Daher bleibt bei vielen im heimischen Badezimmer nichts unversucht, alles wird unternommen, angerührt und aufgetragen, einmassiert und weggespült, um die grauen Haare zu verstecken, so als ginge es um Leben oder Tod. Doch bei aller Mühe ist das Resultat nicht immer überzeugend.
Zumindest wenn man selbst färbt. Die früher Dunkelhaarigen haben das Problem, dass ihre Haare beim Färben zu dunkel geraten und sie aussehen, als trügen sie einen braunen oder schwarzen Helm auf dem Kopf. Frühere Blondinen sehen aus, als wären sie mit demselben Photoshop-Programm umgefärbt worden. Die eine Blonde unterscheidet sich nicht von der anderen Blonden. Dabei ist nicht alles einfach Blond, was aus der Packung kommt. Es gibt Hellblond, Dunkelblond und Mittelblond und alles auch in der Giftstufe „intensiv“. Nicht zu reden von Strohblond oder Weizenblond – dem Hauch Feld-Wald-und-Wiese im Haar. Bei Licht betrachtet allerdings wirkt das Haar der Packungsblonden so, als hätte es zu lange neben der umhäkelten Klopapierrolle auf der Hutablage des Autos gelegen. Verblichen.
Frisörinnen, die jahrelang darin geschult werden, Farbe auf die Haare zu applizieren, erzielen natürlich bessere Ergebnisse. Wir Kundinnen wissen, wie hoch der Aufwand ist, der in den Salons getrieben wird – und auch wie hoch die Kosten sind. Aber jeder entscheidet für sich, ob er oder sie zwanzig Jahre lang einmal im Monat zum Haare färben geht – oder das Geld in eine Eigentumswohnung investiert. Oder sich ein herrliches Jahr lang in Französisch Polynesien die Sonne auf den Bauch scheinen lässt.
Doch in der Pandemie gibt’s kein Schummeln. Jetzt kommt die Wahrheit ans Licht: Wir sind alle gleich, zumindest im Ansatz. Unser Haaransatz kennt keine Lügen. Da hilft auch kein Social Distancing. Neuerdings liegt über den wöchentlichen Zoom-Konferenzen und Skype-Sitzungen ein Grauschleier, der verrät, wer seiner Frisörin zu sehr vertraut hat und es nicht wagt, eigenhändig mit Tuben, Töpfen oder Ansatzspray zu hantieren. Doch die schrittweise Versteppung der Männer – welcher Kollege wusste vor Corona, wozu ein Haargummi taugt – und das stufenweise Ergrauen der Frauen erhöhen die Attraktivität der Farbe Grau. Grau ist das neue Blond.
Doch es ist noch viel besser als das. Grau ist das echte Blond, das wahrhafte, die Haarfarbe, die jedem anders und individuell zusteht und zuwächst. Selten war graues Haar so glaubwürdig und attraktiv. Das gilt nicht nur für Männer, sondern vor allem für Frauen. Mit naturgrauem Haar wirken wir authentisch, frei, selbstbewusst, außerhalb der Norm. Grau ist keine Krisenfarbe, es ist im Gegenteil so etwas wie ein Halbtonschritt in der Musik. Grau ist die feine Stufe, die den Unterschied macht. Grau zeigt das Individuum auf seinem Weg zur Vollendung. Zur Ganzheit.
Nach der Krise, das ist sicher, wird man Grau neu wertschätzen. Wenn die Frisörinnen und Haarkünstler ihre Wartelisten abgearbeitet haben und wieder freie Stühle haben, um für Kundinnen Farbe anzurühren, bleibt Grau die erste Sommerfarbe. Grau wird das Distinktionsmerkmal, mit dem wir ein Zeichen setzen: Ich bin nicht mehr 12, sondern eine erwachsene Frau. Eine erfahrene, gereifte und genussfähige Frau.
Wenn wir Corona überwunden haben, brauchen wir keine Ausreden mehr. Wir sind doch nicht alt geworden, um dann jung zu wirken! Und Altwerden ist ja auch gar nicht so schwer, es ging sogar noch nie so leicht wie heute. Mut zur eigenen Haarfarbe genügt.
So weit bist Du schon gekommen! Es ist so schön! Und es macht Spaß, das zu verfolgen.
Liebe Grüße aus Neustadt an der Weinstraße!
Autor
Liebe Katja,
ganz herzlichen Dank für Deinen Zuspruch. Seit 14 Monaten lasse ich meine Haare nicht mehr färben, und so langsam wird es was.
Liebe Grüsse!
Ich bin heilfroh über deinen Artikel, liebe Ursel !
Denn auch ich habe längst längst mit Farbe auf dem
Kopf aufgehört, nein, seit ca.35 Jahren wirke ich da
ganz allein. Im Gegensatz zu vielen anderen.
Deshalb kann ich das Geschrei nach der „FRISÖR-
ÖFFNUNG “ zurzeit kaum ertragen.
Schlimmer als der Gang zum Impfzentrum.
Naja, such is life !? Ich kann “ ohne“ eben besser
leben.
Autor
So schön wie Du mit Deinen Haaren aussiehst, liebe Marion, kann ich nur sagen: Alles richtig gemacht!
Liebe Ursel,
toll, Deine Mähne! Ich schwanke noch, ob ich meine „unterstützenden“ Strähnchen vielleicht jetzt auch mal weglassen sollte.
Ich lass sie mal über den Sommer weg (da verbleichen sie sowieso wg. der UV-Strahlen so schnell) und schaue im Herbst mal wieder kritisch in den Spiegel. Wer will schon wie 12 aussehen… uGw.
Kennst Du uGw? Irgendwann fing mein Vater an, auf seinen Postkarten aus dem Urlaub zu schreiben (also früher, als man noch Urlaubskarten verschickte): ich komme am Freitag zurück, sGw. Grübel, grübel. Aber im katholischen Köln hatte ich die Lösung fix. Du auch?
Autor
uGw – ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber ich rate: und Gaffel wirkt; und Weiberfastnacht grüßt; unsere Grauhaarigen gewinnen. Nein, bitte hilf mir auf die Sprünge.
katholisch!!!! … uGw „um Gottes willen“ und sGw dann entsprechend „so Gott will“. Meine Oma hat das immer, immer, in jedem dritten Satz gesagt. So Gott will koche ich am Samstag Spargel und so Gott will sehen wir uns heute Abend. Für jede Handlung in der Zukunft. Als Kind dachte ich, dass gehört dazu… also grammatikalisch! Als mein Vater dann im schriftlichen Ausdruck und als Westfale mit sGw einstieg… na da war ich doch platt!
Herzliche Grüße nach Ostwestfalen
Susa
P.S. und Gaffel wirkt ist natürlich grandios… und so wahr 😉
Autor
Stimmt!!! Großartig.
Bis bald, liebe Susa sGw.