Ihre öffentlichen Auftritte in der letzten Zeit waren rar. Doch ließen Sie es sich bis zuletzt nicht nehmen, Freitagabends im „Le Grand Colbert“ zu dinieren. Das letzte Mal sah ich Sie dort vor einem Jahr. Sie waren schmal und gebrechlich geworden, doch hatten Sie noch immer Ihren festen Platz, erste Reihe, rechts vom Eingang. Von hier aus hatten Sie und Ihr schöner Freund alles im Blick.
Ungebrochen waren Ihre Arbeitswut und Ihr beißender Witz. Bei einem Besuch im „Maxim’s“, dem legendären Pariser Restaurant, das Ihnen gehörte, fragte Sie die stadtbekannte Modebloggerin Diane Pernet nach einem Foto. „Non – auf keinen Fall“, entgegneten Sie. Die Amerikanerin, die sich stets als „andalusische Witwe“ – ganz in Schwarz, mit Haarturm und bleichem Gesicht inszenierte, sähe ja aus wie der Tod.
Geboren wurden Sie 1922 als Pietro Cardin, siebtes Kind eines Weinhändlers aus Treviso in der Nähe von Venedig. Als Sie zwei Jahre alt waren, zogen Ihre Eltern mit Ihnen nach St-Etienne in Frankreich. Das Gefühl der Fremde, das Sie auch zu einer Änderung Ihres Namens führte, muss Ihnen also bestens bekannt gewesen sein.
Mit vierzehn begannen Sie eine Schneiderlehre. Als Sie 1945 in Paris eintrafen begannen Sie für Schiaparelli und bald darauf als Schneider für Dior zu arbeiten begann. Schon 1950 – mit 28 Jahren – gründeten Sie eine eigene Modefirma in der Rue Richepanse im Herzen von Paris, 1954 folgte die Eröffnung einer Boutique in der noblen Einkaufsstraße Rue du Faubourg Saint-Honoré.
Ihr erster aufsehenerregender Coup in der Modewelt waren Ihre «Bubble»-Kleider von 1954, die schon vorwegnahmen, worauf es Ihnen nicht ankommen sollte: der weiblichen Figur zu schmeicheln. Stattdessen um- und verhüllten Ihre Kleider ihre Trägerinnen mit geraden oder symmetrischen, oft dreidimensional in den Raum ragenden Schnitten und starken geometrischen Mustern.
Ungewöhnlich für Ihre Zeit, interessierte Sie auch die Unisex-Mode. Ihre Zeitgenossen André Courrèges und Paco Rabanne verfolgten ähnliche Stilinteressen, aber sie trieben ihre Entwürfe nicht derart auf die Spitze, wie Sie es taten. Eine Ihrer wegweisenden Kollektionen trug 1964 den Titel «Cosmocorps». Plastikreifen und überdimensionale Capes, fluoreszierende Bodysuits und Hüte, die nur die Augen der Models freiließen, gehörten zu Ihren Mode-Ideen, die Sie in Materialien wie Spandex und Plastik ausführen ließen.
Gleich bei Ihrem Eintreffen in Paris lernten Sie den Dichter und Regisseur Jean Cocteau kennen, für dessen berühmten Film «La Belle et la Bête» (1946) Sie die Masken und Kostüme entwarfen.
Auch für das Theater sollten Sie später als Kostümbildner arbeiten, und überhaupt: Die Grenzen zwischen den Künsten und zwischen Kunst und Design ignorierten Sie, wo Sie nur konnten2001 kauften Sie das Schloss des Marquis de Sade in Lacoste und machten es zum Zentrum eines bis heute lebendigen Kulturfestivals, in dem Musik, Tanz und Theater zu sehen sind.
Rastlos in Ihrem Unternehmergeist erstand en Sie 1981 auch das berühmte Pariser Lokal «Maxim’s» und eröffneten weitere Ableger in anderen Ländern. Sie erkannten die Zugkraft großer Designerlabels früh und ließen Ihren Namen auf immer preiswertere Produkte drucken, von Strümpfen bis zu Baseballmützen. Mode sollte für alle Schichten zugänglich sein, das war Ihnen ein wichtiges Anliegen. Ebenso früh verstanden Sie die Dynamik der Globalisierung und erkundeten neue Märkte wie Japan. Im kommunistischen China präsentierten Sie 1979 eine Kollektion und eine andere 1991 auf dem Roten Platz in Moskau.
Sie waren einer der ersten berühmten Modeschöpfer, die ihre Modelle einem Massenpublikum zugänglich machten und sie in großen Warenhäusern wie dem Pariser «Printemps» verkauften. Damit waren Sie in den späten fünfziger Jahren schon ein Vorläufer von heute geläufigen Designer-Kooperationen mit Billigmodeherstellern wie H&M. Ihre Geschäftstüchtigkeit trug Ihnen oft Kritik von Modepuristen ein. Doch das störte Sie nicht. Vergnügt behaupteten Sie, auf diese Weise Ihr Modeimperium ohne die Hilfe von Krediten aufrecht erhalten zu haben. Sie hinterlassen ein gigantisches Vermögen aus Restaurants, Hotels, Lizenzgeschäften und hochkarätigen Immobilien – vom Palazzo Casanovas in Venedig, über das Schloss in Lacoste bis zum futuristischen Palais Bulles an der Côte d’Azur – und Ihr Museum im Pariser Marais, das Sie sich schon zu Lebzeiten einrichteten.
Sie erfuhren zahlreiche Ehrungen. Sie waren der einzige Modeschöpfer, der Mitglied der französischen Ehrenlegion wurde. Sie arbeiteten bis zuletzt. Von 1950 an stellten Sie jedes Jahr zwei Kollektionen vor, die letzte zeigten Sie im Frühjahr 2020. Vorgestern sind Sie verstorben, 98 Jahre jung. Respekt!