Weiße Haare. Vier Zentimeter rechts und links vom Scheitel makelloses Weiß. Die restlichen 27 Zentimeter sind braunrot. Beim Blick in den Spiegel denke ich: Die Farbe sieht irgendwie künstlich aus. Ungesund. Ein Fake.
122 Tage seit dem letzten Färben. Der Haaransatz ist so weiß, wie viele schöne Dinge es sind. Die Schlagsahne auf der Erdbeertorte, die schneebedeckten Berghänge im Winter in Südtirol, der Sand am Strand in Westaustralien, das cremige Milch-Bad, Marmor aus Carrara, die weiß gekalkten Trulli in Süditalien.
25 Jahre habe ich mir die Haare färben lassen. Mal waren sie bräunlicher, mal waren sie rötlicher, mal ging etwas schief und sie waren orange. Zweimal im Jahr wurden blonde Strähnchen eingefärbt. Eine stundenlange Prozedur. Im Frühjahr 2015 unternahm ich einen Versuch, mit dem Färben aufzuhören und den grauen Ansatz herauswachsen zu lassen. Darüber schrieb ich auch hier im Blog. Nach 4 Monaten verlor ich den Mut und brach ab. Noch einmal einen Versuch unternehmen? Daran dachte ich nicht im Entferntesten. Dann kam Corona.
Inzwischen hätte ich längst zum Friseur gehen können. Es ist nicht so, dass ich keine Zeit dazu gehabt hätte. Ich habe mich ganz bewusst dagegen entschieden. Ich bin es einfach leid, mir die Haare färben zu lassen.
Eines Tages wird die Farbe ganz aus meinem Haar heraus gewachsen sein. Es wird ganz schön lange dauern. 27 Monate lang. Ich freue mich auf diese Zeit, denn wie oft im Leben hat man schon mal die Möglichkeit, sich selbst neu zu erfinden? Ein bisschen Angst habe ich aber auch. Ein Zebra fällt eben auf. Eine Frau, die ganz offen zeigt, was andere verbergen wollen, wird angestarrt. Sie ist eine Provokation. Vielleicht denken ja auch Sie: „Mein Gott, wie furchtbar! Wie kann sie nur?“
Mein Entschluss zeigt mir, dass die Zeit im Lockdown manchmal nicht einfach, aber auch ein Glücksfall für mich ist. Eine Zeit, in der ich nicht konsumiere und mir das auch nicht fehlt. In der ich mich auf die Essenz des Lebens besinne: Liebe, Freundschaft, Gesundheit, frische Luft, gutes Essen, guter Schlaf, der handgeschriebene Brief, den mir jemand Nettes ins Haus geschickt hat. Eine Zeit, in der wir alle empfindlicher sind und deshalb freundlicher miteinander umgehen. In der wir Zeit haben, über uns nachzudenken. In der wir neue Prioritäten setzen. Zum Beispiel, die Haare nicht mehr zu färben und sie weiß werden zu lassen.
Schön ist das. Und aufregend. Und ein ganz klein bisschen furchterregend.
Haare sind ein Top-Thema auch bei uns drei Bloggerinnen. Tanja und Cerstin haben Interessantes dazu geschrieben. Wenn Sie gerne von mir noch etwas dazu lesen möchten, geht es hier entlang.
Liebe Ursel,
bravo! Toll siehst Du aus, auch als Zebra! Mir fällt jetzt ganz viel zu Deinem Beitrag ein, das würde die Kommentarfunktion sprengen. Konzentration auf die wichtigen Dinge im Leben und das Virus gut überleben. Ich bin sehr gespannt, Deine Metamorphose mit zu verfolgen! Nix bliev wie et is…
Liebe Grüße,
Susa
Autor
Danke, liebe Susa, dass Du vorhast, mich auf diesem Weg zu begleiten. Sei herzlich gegrüßt von
Ursel
Liebe Ursel, danke für den wunderbaren Beitrag!
Ich überlege auch mich zu erlösen und du machst wirklich Mut!
Liebe Grüße Birgit!
Autor
Vielen Dank, liebe Birgit. Der Anfang ist schwer, aber Du wirst sehen, dass es mit der Zeit immer leichter wird. Ich halte Dir die Daumen.
Liebe Ursel,
ich hab 2 Jahre gebraucht um meine braune Farbe rauswachsen zu lassen.
Liegt in meiner Familie und ich war es leid zu färben, zumal ich alle 14 Tage Ansatz färben musste.
Ich bin jetzt 51 und habe weiße lange Haare. Es sieht besser aus, nicht mehr künstlich und ich bin happy
nicht mehr ans Färben denken zu müssen. Zudem sind meine Haare jetzt viel gesünder.
Das Einzige was sich wirklich geändert hat: ich falle auf. Das war ich gar nicht gewohnt;-)
Inzwischen ist meine Haarfarbe zu meinem Markenzeichen geworden. It’s me!
Halte durch, irgendwann ist dir der Zebralook egal und Du wirst belohnt.
Liebe Grüße
Tanja
Autor
Liebe Tanja,
was für eine großartige Ermutigung! Ganz herzlichen Dank dafür. Glücklich, nicht mehr ans Färben denken zu müssen, bin ich jetzt auch schon. Und was das Auffallen betrifft, ja, das stelle ich auch fest. Es gibt einfach noch zu wenige von uns.
Herzliche Grüße!